Heute bloggen Kristin und ich zeitgleich zum Kandidaten –gate. So ein Parallelpost haben wir uns schon im letzten Jahr gegönnt: wir wissen also bis 22 Uhr nicht, welche Überlegungen die andere angestellt hat, wo sie gesucht hat und zu welchem Ergebnis sie kommt. Reizvoll.
Nun denn: Zum ersten Mal in der traditionsreichen Geschichte der Wahl zum Anglizismus des Jahres ist ein Affix nominiert bzw. hat die erste Runde überstanden: –gate. Die Nominierung, genauer gesagt eigentlich die Entlehnung eines gebundenen Derivationsmorphems an sich, ist deshalb ein bisschen erstaunlich, weil in den allermeisten Fällen ungebundene, also freie lexikalische Einheiten entlehnt werden. Es sind also besoders Nomen und Verben, die Sprachen mit Vorliebe aufnehmen; mit ein klein bisschen Abstand folgen Adjektive – und ganz selten in der Entlehnungshierarchie stehen Einheiten, die sich eher am grammatischen Ende unseres Wortschatzes befinden.
Jetzt haben wir mit –gate also ein Suffix, ein (augenscheinlich) gebundenes Morphem, ein Nominal- bzw. Derivationssuffix.
Aktualität?
In der Kürze der Zeit im ausklingenden Semester war es mir unmöglich, eine eventuelle Häufigkeit genau zu bemessen bzw. das Vorkommen des – nennen wir es vorläufig – Wortbestandteils genauer auf einen Zeitraum einzugrenzen. Das liegt primär daran, dass –gate in oberflächlichen Suchanfragen alle möglichen Wortkombinationen auswirft, die auf –gate enden: eine flotte Aufzählung beinhaltet beispielsweise Surrogate, Aggregate, Agate, Spagate oder Colgate. Andererseits werden all die “echten” –gates übersehen, die sich bereits in der Schreibung der deutschen Orthografie angepasst haben: also eben nicht Karatchi-Gate oder Battery-Gate, die mit einem Bindestrich die Suche ermöglichen und erleichtern.
Die schnelle Suche in Zeitungskorpora bei Cosmas II ergibt ein ebenso verwirrtes Bild und hilft bei der Aktualitätsüberprüfung nur so viel weiter: –gate ist als Affix schon lange belegt, eigentlich deutlich zu alt und für die Wahl 2011 schon vorweg nicht qualifiziert.
Also müssen wir uns der Nominierung anders nähern. Ich werfe deshalb zwei Fragen in den Raum: 1.) Hat sich die Bedeutung in den letzten Jahren vor und speziell in 2011 spürbar vom Surrogat(e) Watergate entfernt? Dann frage ich mich allerdings auch 2.): worum handelt es sich eigentlich – um ein Derivationsaffix oder vielleicht doch um den Kopf eines Kompositums?
Ursprung
Na, das überrascht jetzt niemanden: Watergate, 1972. Der OED (in der Ausgabe von 1989, auf der die online verfügbare Definition beruht) definiert es folgendermaßen:
A terminal element denoting an actual or alleged scandal (and usually an attempted cover-up), in some way comparable with the Watergate scandal of 1972.
Ein Skandal mit großer politisch-gesellschaftlicher Strahlkraft, könnte man sagen. Damals.
Im Englischen war –gate übrigens ganz flott produktiv zur Stelle (OED):
- Volgagate (1973), Dallasgate (1975), Koreagate (1976),
- Motorgate (1975), Lancegate [is no Watergate] (1977),
- Wine-gate (1973), Ice Cream Gate (1977)
Dabei sind die Gruppierungen hier semantisch motiviert vorgenommen (die sich bis heute wenig verwunderlich gehalten haben): Gruppe 1 ist nach den Orten des Skandals, Gruppe 2 nach den Namen der involvierten Personen oder Produkten und Gruppe 3 nach der Substanz des Skandals eingeordnet. Außerdem scheint mit zunehmender Zeit die Wucht des Skandals und seiner Öffentlichkeitswirkung doch recht deutlich abzunehmen.
Interessant ist auch, dass der OED –gate nicht als prototypisches Affix kategorisiert, sondern als combining form. Dies sind Formen, die wie Affixe auftreten (als gebundene Morpheme), also wie etwa die form medico– (von medical), dazu gehören auch beispielsweise gebundene Morpheme wie –ology, bio-, physio– oder astro-, die man auch als Wortbildungselemente der sogenannten neoklassischen Komposition bezeichnet (Wortbildung mit gebundenen lateinischen oder griechischen Elementen). Mit –gate scheinen wir uns also in der Grauzone zwischen Komposition und Derivation zu befinden: Komposition wäre es nur dann eindeutig(er), wenn –gate ein freies Morphem wäre. (Ich suche aber noch die Relevanz der Erkenntnis, dass es sich um ein Kompositionselement handeln könnte.)
Kompositum?
Die Frage ist für die Wahl aber drittrangig und abschließend beantworten möchte ich sie nicht. Jaha, dann kam heute nämlich Babette und tat uns und der Twittergemeinde einen ganz wunderbaren Gefallen! Das lustige Kettenmailgate aus dem Bundestag förderte heute unter anderem diese Verwendungen von Gate als freies Morphem zu Tage:
Ein Gate und die
#Piraten sind nicht dabei? Ich prangere das an!#kürschnergate (25. Januar 2012) [@AlterPirat]Mal ein Gate, ohne dass
#Piraten scheisse gebaut hätten.#kürschnergate (25. Januar 2012) [@TeleGehirn]wüsste er, was ihr hier alles als “gate” bezeichnet, würde richard nixon sich im grabe umdrehen. (25. Januar 2012) [@dielilly]
Das kennen wir auch schon von Ismus (“Das ist doch bloß wieder so ein komischer Ismus!”) – das gernzitiertes Beispiel von freigesetzten Morphemen (mit lexikalischer Bedeutung). Das macht Kommunismus oder Feminismus natürlich nicht zu Komposita. Aber bei Gate bestünde durchaus das Potential, dass es sich für den kleinen, leicht amüsant anmutenden Skandal für die Frühstückspause durchaus verselbstständigt. Abwarten. Aber Gemach, Gemach – immerhin suchen wir hier den Anglizismus des Jahres 2011 und nicht das Freie Morphem 2012.
#kürchnergate ist seit Stunden Toptrend bei Twitter. Das ist nicht überraschend – und illustriert die Bedeutungsverschiebung von –gate in die Richtung, dass sich bei dem entsprechenden Ereignis eben noch nicht mal um einen Skandal handeln muss, um ein Gate zu sein.
Produktivität?
Diese Einschätzung wird von einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen (21.01.2012) gestützt:
Aber man kann Lauer, der einer von 15 Abgeordneten der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus ist, auch sehr schnell zum Ausrasten bringen. Man muss nur „Partnergate“ sagen, „Salzgate“ oder „Esogate“. Es sind die auf Twitter benutzten Codewörter der Skandälchen, mit denen die Berliner Piraten es in letzter Zeit regelmäßig in die Hauptstadtboulevardpresse geschafft haben.
Also davon abgesehen, dass wir vermutlich Probleme mit der Aktualität bekommen, finde ich diese Bedeutungsverschiebung eigentlich ziemlich relevant für die Wahl. Die Suche im Cosmas II bleibt hier oberflächlich, aber ein gewisses Muster zeichnet sich ab:
Waterkantgate” nennen spitze Zungen die kaum glaublichen Wahlkampfvorgänge, die bewirkten, daß laut und in allen Lagern von Politik und Gesellschaft die Frage nach der Moral der Macht gestellt wird.
1987, Mannheimer Morgen, 3. Dezember [H87/KM6.09413]
Welchen Song müßte er heute spielen, um sein durch “Monicagate” ramponiertes Image aufzupolieren?
1998, Frankfurter Rundschau, 6. April [R98/APR.27953]
Die Lokalpresse fand einen griffigen Titel für den Abhörskandal im CDU-Haus: “Wesergate”.
2003, Rhein-Zeitung, 1. Juli [RHZ03/JUL.00398]
Der Skandal hatte als »Nipplegate« für Schlagzeilen gesorgt.
2004, Nürnberger Nachrichten, 24. April [NUN04/SEP.02343]
Die Medien sprechen schon vom „Karatschi-Gate“ mit dem Potenzial, Frankreichs neue Staatsaffäre zu werden.
2010, Nürnberger Nachrichten, 23. November [NUN10/NOV.02267]
Auch ein Kabinettsmitglied gestand, dass ein Krawattenverzicht erheblichen häuslichen Ärger ausgelöst hätte. Krawatten-Befürworter sehen in Seehofers Vorstoß ein bedauerliches Krawatten-Gate: „Stillos“ und eine „Missachtung des Parlaments“, schimpfte ein auf Tradition bedachter CSU-Abgeordneter.
NUZ11/JUL.01355 Nürnberger Zeitung, 14.07.2011
Es ist nur eine Stichprobe – aber wir sind im Deutschen offenbar von der großen Staatsaffäre zum kleinen Kantinenwitz gewandert. Von Watergate zu bajuwarischen Empörung über Krawatten? Also da gehört schon eine gehörige Portion Dramaqueengequengel, aus Letzterem sowas wie Ernsthaftigkeit rauszulesen. Außerdem fehlt der heutigen Verwendung der Aspekt der Ursprungsbedeutung bzw. der, die noch in den 2000er Jahren vorherrschend war, nämlich das des Staatsskandals und des die Öffentlichkeit täuschenden Vertuschens.
Fazit?
Ich bin mir nicht sicher, ob all diese Argumente –gate wirklich für einen der Topplätze qualifizieren. Was aber interessant ist, in Ermangelung der sonst eher dürftigen Erfüllung der Nominierungskriterien: Wir haben eine Bedeutungsverschiebung zum kleinen, amüsanten Skandal für zwischendurch. Erneut ist für diese Einschätzung natürlich der Sog von Twitter mitverantwortlich. Und in der Kürze der Zeit dann trotzdem eine spannende und unterhaltsame Entdeckung, auch für mich. So ist –gate dann doch irgendwie ein putziger Kandidat – vielleicht mit Außenseiterchancen, weil wir jetzt verallgemeinert und ungehemmt produktiv auf alles anwendbar die Gates belächeln dürfen.
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